Ein Jahrestag

Ein Beitrag des Kreisvorstands.

Heute ist der 11. März 2021. Heute vor genau einem Jahr ging Waheed P. (24) zu einem Termin in der Ausländerbehörde des Saalekreis. Er kam nie zurück.

Waheed lebte in einer Wohngemeinschaft, seiner Community in einer Altbauwohnung. Für seine deutsche Mitbewohnerin war er wie ein Bruder. Für seinen syrischen Mitbewohner war er der beste Kumpel, der eine Geschichte teilte, die sonst nur wenige verstehen.

Waheed wurde bei seinem Beratungstermin eingefangen. Sein Flieger nach Afghanistan ging am nächsten Tag. Er wurde abgeschoben, weil er nur ein Fall war und dazu noch ein komplizierter. Er hatte einen afghanischen Vater und eine iranische Mutter. Deshalb wurde er automatisch zum Afghanen – irgendwie. In dem Land war er nie. Die Kultur kennt er, aber so, wie ein Deutscher die holländische Kultur kennt. Und so sprach er auch die Sprache quasi so, wie Deutsche holländisch sprechen. Irgendwie. Eigentlich doch gar nicht.

Aber abgeschoben werden doch nur Straftäter? Waheed hatte zwei Strafanzeigen. Bevor er in die Wohngemeinschaft ziehen durfte, hauste er in einer Gemeinschaftsunterkunft. Gemeinschaften sind das aber nicht. Viele Menschen aus vielen Ländern mit vielen Kulturen und noch mehr Sprachen und noch mehr Religionen werden zusammengeworfen und müssen klarkommen. Was nicht mal bei Ostfriesen und Schwaben funktioniert, soll für wildfremde, traumatisierte Menschen eine Lösung sein? Als er dort endlich ausziehen durfte, war der Kleiderschrank kaputt. Anzeige wegen Sachbeschädigung. In der WG war alles besser; er durfte arbeiten, das Leben hatte wieder einen Sinn. Polizeikontrolle am Hallenser Bahnhof. Verdachtsunabhängig. Zweite Polizeikontrolle. Verdachtsunabhängig. Dritte Polizeikontrolle. Verdachtsunabhängig??? Innerhalb von Stunden??? Er nannte den Polizisten einen Nazi. Strafanzeige.

Monate später saß er in der WG, vorbestrafter Asylbewerber ohne afghanische Papiere. Die Ausländerbehörde entzog die Arbeitserlaubnis. Sinn des Lebens? Abschiebeandrohung, weil seine Identität nicht durch einen Pass belegt werden konnte. Er erfragte einen Termin in der afghanischen Botschaft in Berlin – bekam einen für Anfang 2021.

Am 11. März 2020 verschwand er aus dem Leben seiner Freundinnen und Freunde.

Wir schreiben von ihm in der Vergangenheit. Warum?

Die Behörden gestatten bei Ingewahrsamnahme einen Anruf bei einem Anwalt. Bei seinem eigenen Anwalt hat Waheed nicht angerufen. Vermutlich bei einem anderen, der seinen Fall nicht kannte, seine Freunde nicht informieren konnte. Waheed wird nach Afghanistan ausgeflogen. Die afghanische Botschaft hatte seine Identität noch nicht bestätigt. Aber er sagte ja, er hatte einen afghanischen Vater. Also auf nach Kabul. In das gefährlichste Land der Welt.

Stell dir vor, du fliehst mit deinem Kind. Und zwanzig Jahre später wird dein Kind in ein Land geschickt, dessen Kultur es kaum kennenlernen kann, weil jeder Tag Krieg ein Stück davon zerstört. Überall nur Tod. Und getötet wirst du ganz schnell, wenn jemand merkt, dass du von woanders bist – vor allem, wenn du aus Europa kommst. Geflohene sind Verräter*innen; nur Straftäter*innen werden abgeschoben – so erzählen es die Taliban.

Waheed wurde in ein Land geschickt, in dem niemand sicher ist. Vor allem er nicht.

Wenn Waheed dort gestorben ist, dann weil er von der deutschen Bürokratie nur als Fall angesehen wurde, weil deutsche Politik nicht die Verantwortung für die Waffenexporte und die kapitalistische Unterdrückung im Nahen Osten und der sogenannten Dritten Welt übernimmt. Wenn Waheed dort gestorben ist, dann weil eine Behörde die gute Integration ignorierte, das Leid ignorierte, das Menschen erleben, wenn sie fliehen, wegen einem Schrank und einer Polizei, die ihr rassistisches Handeln nicht reflektiert. Wenn Waheed dort gestorben ist, dann weil christliche Werte wie Nächstenliebe nicht über den eigenen Gartenzaun hinaus reichen.

Wenn Waheed dort gestorben ist, dann auch, weil Parteien wie unsere eigene ihre Grundsätze für billige Kompromisse verkaufen.

So viel wie 2019 hat Deutschland noch nie exportiert – Rüstungsgüter im Wert von 7,95 Milliarden Euro.

Wer bekam die meisten Lieferungen?

1. Ungarn (1,77 Mrd. €) – EU
2. Ägypten (802 Mio. €) – DRITTLAND
3. USA (483 Mio. €) – NATO

Unter den Top 10 Empfängerländern befinden sich Kriegsteilnehmer und Länder, die wegen grober Missachtung der Menschenrechte kritisiert werden;

Algerien (238 Mio €)
Katar (223 Mio €)
Vereinigte Arabische Emirate (207 Mio. €)
Indonesien: (201 Mio €)

https://katapult-magazin.de/de/trockne-zahlen/trockne-zahlen/fulltext/deutsche-ruestungsexporte-2019/27.12.2019

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